Wie ist es, die Stadt aus der Perspektive eines Kindes zu erleben? Eine Neuerscheinung aus Kanada macht auf irritierende Weise deutlich, wie kleine Menschen sich durch Straßen und Gassen oder zwischen Menschen und Autos bewegen. Eine berührende Erzählung.

Wenn man schon viele Kinderbücher gesehen hat, haben es Bücher nicht leicht, einen zu beeindrucken. „Unsichtbar in der großen Stadt“ hat mich nach dem ersten Blick in das Buch emotional so tief berührt, wie es lange keinem Buch mehr gelungen ist. Ich war sofort von der melancholischen Stimmung gefangen, obwohl oder vielleicht gerade weil ich nicht gleich wusste, worum es geht.

Die außergewöhnlichen Illustrationen erreichen uns sofort auf der Emotionsebene. Wir wissen noch nicht, worum es geht, aber wir FÜHLEN, wie es ist, wenn man klein in einer großen Stadt ist. Ein Kind sitzt im Bus und schaut durch beschlagene Scheiben in vier Illustrationen nach draußen. Wir erkennen schemenhaft einige Straßenszenen aus dem Bus. Die nächste Illustration zeigt uns das Kind von außen im Busfenster sitzen. Aber wer ist unsichtbar? Vielleicht das Kind. Es steigt aus und sagt: „Ich weiß, wie es ist klein zu sein in der großen Stadt“. Und wir sehen das Kind zwischen Autos und Menschen und hohen Häusern über die Straße gehen. Das Kind begibt sich ins Gedränge nach draußen und schließt sich dem Fluss der Menschen an und die Erzählung beginnt.

Unsichtbar

Wir sehen fokussierte Ausschnitte der Stadt: Ein Gitter, Menschen- allerdings aus der Perspektive eines Kindes-, eine Ampel, Fenster. Weil das Kind so klein ist, sind die Eindrücke und Ausschnitte der Bilder manchmal verwirrend. Und die anderen Menschen scheinen das Kind nicht zu sehen. Dazwischen gibt es Erklärungen:

Keiner sieht Dich und es ist laut.

Sich da auszukennen ist nicht immer leicht.

Ein Kind zeigt dem Leser oder Betrachter die Stadt, wie es die Stadt wahrnimmt. Es zeigt uns, was wichtig ist oder sein könnte. Wir wissen fast bis zum Schluss nicht, worum es geht. Die Illustrationen sind schwarz, weiß, grau mit wenigen Farbtupfern. Es schneit.

Das Kind scheint uns zu navigieren oder führt es sich selbst? Beim ersten Lesen ist es auch für uns verwirrend, wir wissen nicht an wen sich die Geschichte wendet, wen das Kind durch die Stadt leitet. Auf jeden Fall spüren wir, wie es ist, wenn man das Treiben in der Stadt mit den Augen eines kleinen Menschen sieht und erlebt. Schmale Gassen können eine Abkürzung sein, und man geht besser schnell durch solche Gassen, weil es auch unheimlich ist. Es gibt Zäune, hinter denen Hunde bellen und man kann sich erschrecken. Das Kind rät, einen Bogen um den Zaun zu machen. Es kommt ein Lüftungsrohr, da kann man sich wärmen. Oder vielleicht auch davor schlafen?

Das Kind streift durch die große Stadt und macht den Leser auf Besonderheiten aufmerksam, zeigt Geheimverstecke.
Wir fühlen wie das Kind und erleben die Situation wie das Kind, weil wir die Geschichte nicht erfassen, wir wissen nicht, worum es geht. Die Geschichte wendet sich ein wenig, wird etwas noch seltsamer, als uns das Kind auf den Fischhändler aufmerksam macht. Hier kann man vielleicht einen Fisch bekommen...

Je mehr uns erzählt wird, desto besser verstehen wir, wie schwer es ein kann, sich in einer Stadt zurechtzufinden, wenn man klein ist. Wie schnell man von den Geräuschen und Eindrücken überfordert sein kann und dabei noch auf sich selbst achtgeben muss. Wie gut, dass das Kind ein Profi ist, sich unsichtbar in einer Stadt zurechtzufinden. Niemand könnte einem besser erklären, wie man sich gut durch die Stadt bewegen kann. Und je weiter sich das Buch auf das Ende zu bewegt, desto klarer wird uns auch, warum das Kind so einfühlsam und liebevoll durch die Stadt führt.

Dem kanadischen Autor und Illustrator ist es auf bemerkenswerte Art gelungen, uns zu zeigen, wie es ist, wenn man klein ist und noch nicht alles erfassen, verstehen und einordnen kann. Gerade weil er nicht erklärt, warum das Kind durch die Stadt streift, ist es ihm gelungen zu irisieren und zu irritieren. Beim ersten Betrachten des Buches, fühlte ich, wie es ist, klein zu sein. Kinder werden sich in dem Buch erkennen und wir können unsere Kinder ein wenig besser verstehen.

Dieses Buch ist im englischsprachigen Ausland zu recht schon hochgelobt und mit verschiedenen Preisen ausgezeichnet worden.

Unsichtbar in der großen Stadt

Sydney Smith (Text und Ill.) Bernadette Ott (Übersetzung)
Aladin Verlag
ISBN 9783848901760
18,00 €

Unsere Buchtipps sind Empfehlungen der Buchhandlung Schwericke in Lichterfelde. Der Laden liegt direkt am S-Bahnhof Botanischer Garten. Natascha, im Team verantwortlich für den Bereich Kinder- und Jugendbuch, stellt an dieser Stelle jede Woche eine Neuerscheinung oder einen gut abgelagerten „Mustread“ vor.

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