Interview mit Prof. Dr. Matthias von Saldern zur Umsetzung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Mit dieser UN-Konvention wurde in Deutschland ein Rechtsanspruch auf inklusive Bildung geschaffen. Aber der Ausbau entsprechender Bildungsangebote kommt in Deutschland nur schleppend voran.

Prof. Dr. Matthias von Saldern | Bild: privatVon den 485.000 Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf ging im Schuljahr 2009/2010 in Deutschland nur jeder Fünfte auf eine Regelschule. Die große Mehrheit wird weiterhin in separaten Förderschulen unterrichtet. Begründungen für diese schleppende Umsetzung der UN-Konvention gibt es reichlich. Wir haben den Erziehungswissenschaftler Prof. Dr. Matthias von Saldern von der Leuphana Universität in Lüneburg mit den gängigsten Argumenten konfrontiert.

Argument 1: Schulen sind gar nicht auf den "Ansturm" der behinderten Kinder vorbereitet.

Matthias von Saldern: Es wird keinen Ansturm geben. Die UN-Behindertenrechtskonvention sagt ja auch aus, dass wohnortnah beschult werden muss. Derzeit gibt es Ballungen wegen der Förderschulen (die Kinder werden mit Bussen eingesammelt und zur Schule gebracht), diese werden in der Zukunft nicht auftreten. Pro Schulklasse kommen bei Auflösung des gesamten Sonderschulsystems ca. 0,5 Kinder hinzu.

Argument 2: Lehrer sind nicht für die inklusive Schule ausgebildet.

Matthias von Saldern: Die Schulen arbeiten bereits inklusiv. Hochbegabte Kinder, autistische Kinder, Kinder mit Asperger-Syndrom, Kinder aus ökonomisch prekären Lebenssituationen usw. werden bereits jetzt inklusiv beschult. Die neuen Merkmale, die es zukünftig im Klassenraum geben wird, bedürfen natürlich einer angemessenen Reaktion, die zweierlei Art sein kann: Zum einen muss die Lehrerausbildung verändert werden, zum anderen kommen alle Sonderpädagogen in die Regelschule.

Argument 3: Das einzelne Kind wird in einem vielgliedrigen Schulsystem besser gefordert und gefördert.

Matthias von Saldern: Diese These ist, was das allgemeine Schulsystem angeht, längst widerlegt. Zur Förderung im Förderschulsystem liegen zahlreiche Daten insbesondere über die Förderschule für Lernhilfe vor. Diese zeigen eindeutig: Ein Kind mit Lernschwierigkeiten gehört auf eine Regelschule. Dies ist auch der Grund, warum es die Schule für Lernhilfe außer in Österreich und bei uns nirgendwo gibt.

Argument 4: Das Sonderschulsystem hat sich bewährt - viele Eltern wollen ihr behindertes Kind lieber in eine Förderschule schicken.

Matthias von Saldern: Hinsichtlich welcher Kriterien hat sich das Sonderschulsystem bewährt? Wo bleiben Daten und Fakten? "Die" Eltern gibt es nicht. Die Zahl der vor den Verwaltungsgerichten klagenden Eltern ist enorm. Im Übrigen: Warum sollen Eltern immer bestimmen, wie das Schulwesen aussehen soll? Warum dürfen sie beim Straßenverkehr nicht mitreden?

Argument 5: Zwei Systeme – das inklusive und ein Förderschulsystem (damit Eltern die Wahl haben) – sind nicht finanzierbar.

Matthias von Saldern: Wir haben genug Geld in Deutschland. Aber wenn die Kosten gleich bleiben sollen, dann bleibt nur die Auflösung des Förderschulsystems und die Verlagerung der Mittel in das Regelschulsystem.

Argument 6: Veränderungen im Bildungssystem brauchen viel Zeit, das geht nicht von heute auf morgen.

Matthias von Saldern: Wenn man sieht, wie schnell das DDR-Schulsystem eingestampft wurde, kann man dieser Aussage nicht zustimmen. Bis alle Förderschulen abgeschafft werden, wird es aber sicherlich zehn Jahre dauern.

Quelle: bildungsklick.de

{metatitle:Inklusion: Kinder mit Lernschwierigkeiten in der Regelschule | berlin-familie.de}